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04.07.2023

Klosterforschung damals, heute und morgen

Während früher lange Reisen zu Archiven notwendig waren und Schriften oft nur mühsam entziffert werden konnten, verkürzen heute digitale Angebote den zeitlichen Aufwand. Doch braucht es noch immer die traditionellen Methoden der Geschichtswissenschaft, um die Ergebnisse aus den Recherchen zu interpretieren.

Als Klosterchronist P. Martin Kiem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die zweibändige Geschichte seines Klosters konzipierte und niederschrieb, gingen seinem Manuskript über zwanzig Jahre Recherchen, Gespräche und Korrespondenzen voraus. Weite Reisen – von Sarnen in Obwalden nach Gries in Südtirol dauerte es Mitte des 19. Jahrhunderts etwa acht Tage – für Archivrecherchen gehörten dazu. Archivkataloge lagen nicht gedruckt vor, Notizen, Korrespondenzen und Entwürfe für Texte schrieb Kiem ausschliesslich von Hand.

Heute ist das undenkbar. Viele Handschriften, Zeitungsartikel und Aufsätze sind digitalisiert und auf einschlägigen Plattformen online zugänglich. Archivalien können in den Archiven abfotografiert und in Ruhe entziffert werden. Bislang lag es aber an paläografisch geschulten Personen, diese im Fall von Handschriften zum Teil nur schwer leserlichen Dokumente zu entziffern.

 

Künstliche Intelligenz als Chance

Zumindest die Aufwände für Transkriptionen sind heute bereits mit neuen Tools reduzierbar. Tobias Hodel ist Professor für Digitale Geisteswissenschaften an der Universität Bern und hat das Tool Transkribus mitentwickelt. Es handelt sich dabei um eine automatische Handschriftenerkennung, basierend auf neuronalen Netzen, also auf künstlicher Intelligenz (KI). «Es lernt laufend dazu, ist aber inzwischen schon zuverlässig einsetzbar», sagt Hodel. Den hauptsächlichen Erkenntnisgewinn solcher Tools sieht Hodel aber nicht nur darin, schwer Entzifferbares mit einem Klick verfügbar zu machen. Eher kann damit in einem Meer von Dokumenten das richtige gefunden werden: «Wir sind heute in der Lage, grössere handschriftliche Quellenkorpora systematisch nach Stichworten zu durchsuchen.» Dies eröffnet ganz neue Blickwinkel und führt zu bisher undenkbaren Fragestellungen, beispielsweise im Hinblick auf die Erforschung von klösterlichen Netzwerken oder Parallelüberlieferungen von Texten. «Einzelne Quellen können so in einen viel grösseren Kontext gestellt und entsprechend gewichtet werden.»

Auch mit dem KI-Chatbot ChatGPT, bzw. spezialisierten offenen Ablegern für die Geschichtswissenschaft, werde gearbeitet. Möglicherweise können damit später einmal umfassende Abfragen über Literatur und Quellen erfolgen. «Quellenkritik ist und bleibt aber unerlässlich, denn diese Tools schöpfen immer aus digitalen Beständen», sagt Hodel. Was nicht digitalisiert ist oder im Fall von Transkribus nicht als Schrift «gelernt» wurde, kann nicht Teil eines validen Ergebnisses sein. Nicht zuletzt sind die durch Maschinen transkribierten Texte mit dem Originaltext abzugleichen. «Sie machen oft die gleichen Übersetzungsfehler wie die Menschen», erzählt Hodel. Doch sind sie viel schneller.

 

Nachschlagen nun auch online

Auch Nachschlagewerke für die Geschichte von Klöstern werden online zugänglich gemacht, so die «Helvetia Sacra», das mehrbändige Handbuch zu den kirchlichen Institutionen der Schweiz, das von 1972 bis 2007 herausgegeben wurde. Die Fachstelle kirchliches Kulturerbe an der Stiftsbibliothek St. Gallen betreibt seit 2020 eine gleichnamige Datenbank, die sich als Informationssammlung zur Geschichte der kirchlichen Einrichtungen der Schweiz versteht. Hier ist die integrale Online-Veröffentlichung der Helvetia-Sacra-Artikel bis Ende 2024 geplant. Die Beiträge zu den Dominikaner- und Benediktinerklöstern, darunter auch Muri und Hermetschwil, sind seit November 2022 bereits in PDF-Form abrufbar.

Ein weiteres Teilprojekt ist das «Handbuch der Schweizer Klosterbibliotheken». Neben der Druckausgabe (2022) sind inzwischen 84 Einträge auf der Web-Datenbank der Helvetia Sacra abrufbar. Sie geben Auskunft über Bestände, Zustand und Umfeld von Klosterbibliotheken. Albert Holenstein ist Leiter der Fachstelle für kirchliches Kulturerbe an der Stiftsbibliothek St. Gallen und setzt für die Projekte der Helvetia Sacra die nächsten Schritte um: «Die Datenbank der Klosterbibliotheken wird laufend erweitert, und beim Nachschlagewerk der Helvetia Sacra online planen wir Updates», sagt Holenstein. So sollen die Listen der Klosteroberen ergänzt und Änderungen des Klosterbestandes dokumentiert werden, da die Registerdaten der Helvetia Sacra zum Teil nicht mehr aktuell seien. «Denn einige Klöster sind inzwischen aufgehoben.»

 

Das digitale Kloster?

Die Stiftsbibliothek sorgt zudem mit Zusammenkünften für regelmässigen Austausch unter den Klosterbibliothekaren und -bibliothekarinnen, wie Holenstein berichtet: «Digitalisierung ist auch in den Klöstern ein grosses Thema, jedoch ist der Stand sehr unterschiedlich.» Während gerade Benediktinerklöster wie Muri-Gries und Einsiedeln – Engelberg zum Teil – über digitale Bibliothekskataloge, Archivverzeichnisse und Professbücher verfügen, zudem einen Teil ihrer mittelalterlichen Handschriften auf der Plattform e-codices digital einsehbar machen, ist dies bis heute in Frauenklöstern die Ausnahme. «Lediglich das Benediktinerinnenkloster Hermetschwil und das Dominikanerinnenkloster Wil gelten bezüglich der mittelalterlichen Handschriften als gut erschlossen und untersucht», ordnet Holenstein ein.

 

Abrufbare Erinnerungen

Digitale Möglichkeiten werden auch für die Vermittlung wichtiger. Gerade für lokalgeschichtliche Projekte können digitale Wege genutzt werden, um mit bescheidenen Mitteln zu dokumentieren und einen grösseren Personenkreis zu erreichen. Rund um das Kloster Muri und die Erforschung seiner Geschichte entstanden lokale Initiativen, die einen Beitrag zur Erinnerungsgeschichte dieses Klosters leisten möchten. Eines davon ist das Projekt «Kloster Muri - erinnern und erleben» von Benno Seiler aus Bettwil. Das Kloster ist für ihn ein zentraler Ort kulturellen Lebens der Region. «Man kann im Dorf kaum daran vorbeigehen, es ist wie ein Ausrufezeichen», sagt Seiler. Er befragt deshalb Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu ihren Erinnerungen und Erfahrungen rund um das Kloster Muri. Auszüge aus gefilmten Gesprächen werden nach und nach online veröffentlicht. Ein erstes Gespräch ist jetzt abrufbar.

 

Digitale Nachschlagewerke und Tools

Helvetia Sacra

Transkribus (Einführung von Prof. Dr. Tobias Hodel für die Schweizerische Nationalbibliothek)

Digitale Handschriften auf e-codices

Königsfelden online

Zeitzeugengespräch Hugo Etterlin von «Kloster Muri - erinnern und erleben»

Digitale Professbücher der Klöster Muri, Engelberg und Einsiedeln

Voyant für Korpusanalysen

Palladio für Netzwerkanalysen