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02.12.2021

Klostergeschichte: Vom Milieu-Blick zu neuen Perspektiven

Geschichte schreiben ist nie neutral. Bis weit ins 20. Jahrhundert war Geschichte-Schreiben auch ein legitimer politischer Akt. So war Pater Martin Kiem, der grosse Klosterchronist Muris, dem Kulturkampf des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Die für das 1000-Jahr-Jubiläum geplante «Neue Klostergeschichte» integriert hingegen verschiedene Perspektiven.

Als der Südtiroler Pater Martin Kiem (1829–1903) in den 1860er-Jahren aus dem Kloster Muri-Gries ernsthaft begann, sich mit der Geschichte seines Klosters auseinanderzusetzen, standen die Schweizer Klöster stark unter Druck. In vielen Kantonen waren bereits Klöster aufgehoben worden, so auch 1841 Kiems Mutterkloster Muri im Aargau. Nun drohten weitere Massnahmen gegen Klöster und den konservativen Katholizismus.

Mit dem Milieu-Blick

Martin Kiem aber hatte trotz politisch schwieriger Voraussetzungen ein klares Ziel vor Augen: Er wollte eine Geschichte «seines» Klosters Muri schreiben. Kein Weg schien zu weit, kein Opfer zu gross für seine Quellenarbeiten. Bei seinen Recherchen für die zweibändige Klostergeschichte im Aargau begegnete er dem Antragssteller des aargauischen Klosteraufhebungsbeschlusses von 1841, Augustin Keller, persönlich und wurde auf der Strasse wegen seines Habits beschimpft.

Kiem forschte zwar akribisch, doch war seine Herangehensweise an die Materie von seiner katholisch-konservativen Weltanschauung geprägt. Auf der anderen Seite gab es aber auch eine Geschichtsschreibung über das Kloster mit klar liberaler Ausrichtung. Sie stand Klöstern insgesamt kritisch gegenüber. Die Auseinandersetzung mit historischer Materie diente für beide Seiten nicht nur der Erkenntnis, sondern war ein Mittel der Verteidigung und Rechtfertigung – bis in die jüngste Gegenwart. Was für die national-liberale Schweizer Geschichtsschreibung vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt, lässt sich auch für die Engführung der klostergeschichtlichen Perspektive sagen: Weder Sprache noch Klasse bestimmten das Geschichtsbild von Herr und Frau Schweizer so nachhaltig wie die Religion beziehungsweise Konfession.

Kulturkampf ist passée

Rund dreissig Jahre – also fast sein halbes Leben – forschte Kiem. Es resultierte neben einer regen Publikationstätigkeit zur Obwaldner und Südtiroler Geschichte eine zweibändige gedruckte Klostergeschichte «Geschichte der Benedictiner Abtei Muri-Gries», aber auch Quelleneditionen und Urkundenregesten sowie ein unveröffentlichtes Manuskript zur Geschichte des Klosters Hermetschwil. Keine späteren Klosterchronisten und keine weltlichen Geschichtsinteressierten konnten es mit der Breite und Tiefe des Kiem’schen Gesamtwerkes aufnehmen. «Der Kiem» war und bleibt bis heute das Standardwerk. Es bietet einen quellenbasierten Überblick zur Gesamtgeschichte des Klosters, obwohl es auch in vielen Punkten längst veraltet ist.

Gleichwohl fanden weitere Gebiete der Klostergeschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts Vertiefung, dies in Dissertationen, aber auch kleineren Artikeln in lokalgeschichtlichen Kontexten. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war auch eine Reflexion des eigenen Standpunkts im Kloster Muri-Gries eingetreten. So schrieb Pater Leo Ettlin (1928–2010) etwa über die Aufhebungsgeschichte Mitte der 1990er-Jahre: «Wir (Mönche von Muri-Gries) sehen in den Gestalten von damals Ideale und wir fühlen uns ihnen noch heute verpflichtet. Unser Geschichtsbild über die für uns schicksalsschweren Ereignisse ist eigenartig. Es hat sich fast anekdotenhaft auf einzelne, stark emotionale Details reduziert.» Er entschied sich bewusst dafür, die Brille des Kulturkampfs und des katholischen Milieus abzulegen.

Neue und diverse Perspektiven

Verschiedene Perspektiven zu erlauben, war denn auch Motivation für die Gründung einer Stiftung Geschichte Kloster Muri. Bei der Stiftungsgründung führten die Initianten das Ziel aus, «die 1000-jährige Geschichte dieses ganz besonderen aargauischen Klosters mit nationaler Bedeutung zur Darstellung zu bringen». Die «Neue Klostergeschichte», die seit 2020 nun von Personen aus der Schweiz und Italien verfasst wird, setzt diesen Wunsch um.